Braucht die welt ernährungsberater

Zugegeben: Eine ziemlich provokante Frage ausgerechnet von jemandem, der selber Ernährungsberater ist und davon lebt. Aber – wie ich finde – eine berechtigte Frage, die man sich genauer anschauen sollte. Tauchen wir ein in die Welt der Ernährungsberatung. Was kann sie und was kann sie nicht? Was hilft und was ist kontraproduktiv? Woran lässt sich erkennen, ob es sich um eine seriöse Beratung oder bloß um Abzocke handelt? Und braucht die Welt Ernährungsberater überhaupt?

2500 Jahre alt
Schon Hippokrates (griech. Arzt geb. 460 v. Chr.) war der Ansicht „Nahrung sollte unsere Medizin sein“. Dieser hippokratische Ansatz wurde von den Römern aufgegriffen und weiterentwickelt, fand später im Mittelalter den Weg in Gesundheitsbücher und hat sich in der Renaissance im 15. und 16. Jhdt. in Form von Ratgebern verbreitet. Intensiv mit Ernährungsfragen setzte man sich aber erst Anfang des 19. Jhdts. auseinander. Das war der Beginn der wissenschaftlichen Ernährungslehre, die die Nahrungsmittel nach ihrem Kaloriengehalt und ihrer Zusammensetzung (Eiweiß, Kohlenhydrate, Fett) einteilte und bewertete. Diese Erkenntnisse beeinflussten die Lebensmittelindustrie des 20. Jhdts. maßgeblich. Einen wahren Aufbruch erlebte die Ernährungsberatung aber in den letzten Jahrzehnten aufgrund der durch den wirtschaftlichen Aufschwung und zunehmenden Wohlstand veränderten Ernährungsgewohnheiten seit den 1950er Jahren.

Ein mächtiges Geschäft
Gibt man in Google den Suchbegriff „Ernährungsberatung“ ein, so erhält man in Österreich 332.000 Einträge, in Deutschland 3,280.000. Alleine daran lässt sich erkennen, wie gefragt nicht nur das Thema selbst, sondern auch das Beratungsangebot ist. Sieht man sich die Angebote im Detail an, so kommt der Verdacht auf, dass auf diesem Markt Anbieter mitmischen, die weniger den Menschen als die eigene Brieftasche im Mittelpunkt haben. Die Heilsversprechen sind zum Teil haarsträubend und die pseudomedizinischen Erklärungen entbehren oft einer wissenschaftlichen Grundlage. So sind zum Beispiel Stoffwechselanalysen zur scheinbaren Bestimmung einer Übersäuerung oder Unverträglichkeiten jeder Art oft unseriös und Methoden zur sekundenschnellen Messung von Mangelerscheinungen sehr kritisch zu hinterfragen.

Ernährungsberater ohne Ausbildung
Würden Sie Ihren Kachelofen von einem Automechaniker bauen lassen? Wahrscheinlich nicht. Ebenso würden Sie wohl Ihr Kind, das ein Musikinstrument erlernen möchte, in die Musikschule einschreiben und einem Profi anvertrauen, der das Spielen des Instruments mit Freude am Musizieren und nachhaltig vermitteln kann. Im Bereich der Ernährungsberatung gibt es in Österreich hingegen gesetzlich keine eindeutige Regelung, sofern man gesunde Personen beraten möchte. Daher kann jeder den Beruf des Ernährungsberaters (auch ohne Ausbildung) ausüben. Dieser Umstand öffnet Tür und Tor für Anbieter mit einer zum Teil eigenartigen Auffassung von Ernährungsberatung oder unseriösen Praktiken.

Kohlenhydrate machen dick
Empfehlungen wie diese oder „Schweinefleisch ist ungesund“, „Weißbrot sind leere Kalorien“, „Dinkel ist besser als Weizen“, usw. haben Sie sicherlich schon irgendwo gelesen oder gehört. Solche „Weisheiten“ setzen sich bei laufender Wiederholung als Überzeugung in unseren Köpfen fest, und es fällt einem irgendwann schwer, sie nicht zu glauben. Woher stammen diese Aussagen und wie hilfreich sind sie? Jede Ernährungsempfehlung entspringt einem wahren Kern, wird aber meist zu wörtlich genommen oder falsch interpretiert. Ein bekanntes Beispiel ist die Abnehmregel: „Nach 18 Uhr zu essen, macht dick“. Vor einigen Jahrzehnten fand in unseren Haushalten das Abendessen innerhalb der Familie in der Regel um 18 Uhr statt. Im Laufe der letzten 50 Jahre haben sich Lebensrhythmus und Zeitabläufe (flexiblere Arbeitszeiten) vieler Menschen in unseren Breiten sehr verändert. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Übergewichtigen in der Bevölkerung an. Das hat wohl Ernährungsexperten der ersten Stunde dazu veranlasst, die „Vor-18-Uhr-Essen-Regel“ aufzustellen. Aus heutiger Sicht und meiner Erfahrung lässt sich sagen, dass nicht die Uhrzeit entscheidet, ob jemand zuviel Speck auf den Hüften hat, sondern ob die Kalorienbilanz langfristig positiv oder negativ ausfällt.

Viele Regeln verderben den Brei
Noch nie gab es so viele Ernährungsratgeber und -bücher wie heute. Gleichzeitig ist eine massive Verunsicherung bei vielen Menschen zu beobachten, wenn es ums Essen geht. Man weiß nicht mehr so recht, was man nun essen darf und was nicht. Vollkornmüsli zum Frühstück, Fitnesssalat zum Mittagessen und abends Fisch mit Gemüse würden wohl jeden Wettbewerb um gesunde Ernährung gegen Buttersemmel, Käsespätzle und Wurstnudeln gewinnen. Oder ist es vielleicht umgekehrt? Sind fünfmal Obst und Gemüse am Tag tatsächlich für jeden gesund? Die ehrliche Antwort lautet: Die Ernährungswissenschaft weiß es nicht genau. Es fehlen seriöse, langfristige und unabhängige Studien, die beweisen könnten, welche Ernährungsweise tatsächlich das Leben verlängert oder weniger krank macht. Eines aber gilt: „Die Dosis macht das Gift!“

Der Kopf denkt, der Bauch lenkt
Die Unzahl an Ernährungsregeln führt sehr viele Menschen in ein gestörtes Essverhalten. Man spricht vom so genannten kopfgesteuerten Essen oder anders ausgedrückt: Man denkt beim Essen zu viel. Jeder Mensch ist mit Mechanismen ausgestattet, die für die richtige Ernährung sorgen. Wäre dem nicht so, gäbe es die Spezies Mensch nicht bis zum heutigen Tag. Dazu zählen zum Beispiel das Hunger- und Sättigungsgefühl, das Belohnen mit Essen nach Stress (emotionaler Hunger) oder die instinktive Abneigung gegen ein bestimmtes Lebensmittel, mit dem man irgendwann eine schlechte Erfahrung gemacht hat wie etwa Pilze oder Alkohol.
Es gilt also zu spüren, was einem gut tut und was nicht. Kein Ratgeber der Welt kann für jeden Menschen richtig liegen, das eigene Gefühl schon. Auch wenn das Körpergefühl für die richtige Ernährung im Laufe der Jahre schon abgenommen haben oder verloren gegangen sein sollte, lässt es sich wiederentdecken.

Ernährungsberatung ja oder nein?
Eine gute Ernährungsberatung soll Sie auf dieser Entdeckungsreise begleiten und Hilfe zur Selbsthilfe sein. Sie unterstützt Sie nachhaltig, geht auf Ihre individuellen Bedürfnisse ein und berücksichtigt Ihre persönlichen Umstände. Ein/e gute/r Berater/in nimmt Ihr Beratungsziel nicht nur ernst, sondern achtet darauf, dass dieses auch realistisch zu erreichen ist. Es muss Raum für Genuss geschaffen werden. Die Ernährung muss vor allem alltagstauglich sein. Allzu häufig sind Beratungen und Pläne sehr alltagsfremd und die Tipps auf Dauer nicht umzusetzen.

Essen und Emotion
Der Mensch isst nicht nur für die Energiezufuhr, sondern auch, weil es sich gut anfühlt. Schokolade gibt nicht nur Kalorien, sondern auch ein gutes Gefühl (sofern sie kein schlechtes Gewissen auslöst). Wenn grundlegend emotionale Zustände das Essverhalten über längere Zeit negativ beeinflussen, ist eine psychologische Beratung als Ergänzung zur Ernährungsberatung sinnvoll.

Seriös oder Abzocke?
Ein Pauschalurteil wäre hier nicht angebracht, aber ein wenig Kritik schon. Wenn Ihnen ein Abnehminstitut weismacht, abnehmen wäre einfach oder gelänge mit einem Abnehmpulver, dann lassen Sie die Finger davon! Hier steht nicht eine dauerhafte Ernährungsumstellung, sondern ein Produktverkauf im Vordergrund. Sollten Sie wegen einer Lebensmittelallergie oder –unverträglichkeit Hilfe brauchen, fragen Sie bei Ihrer/Ihrem Hausärztin/Hausarzt oder einer/einem Diätologin/Diätologen nach, wie und wo Sie eine seriöse Diagnostik machen können. Seien Sie bei Begriffen wie „Entschlacken“, „Entsäuern“ und „Stoffwechselanalyse“ skeptisch und kaufen Sie nicht die Katze im Sack.